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Die Ereignisse der ersten vier Kapitel erfuhr ich natürlich erst lange nachher, aber dank genauer Befragung der Verwandten glaube ich, sie getreu wiedergegeben zu haben.
Poirot und ich wurden mit dem Fall erst Ende Juni bekannt, als wir Miss Arundells Brief erhielten.
Es war ein glühend heißer Morgen. Ich saß am Fenster, als die Frühpost gebracht wurde. Nach einer Weile wandte ich den Kopf zu Poirot und sagte: «Poirot, ich, der bescheidene Watson, werde jetzt einen Schluss ziehen.»
«Ziehen Sie, Hastings, ziehen Sie! Ich bin entzückt darüber.»
Ich warf mich in Positur und sagte großartig: «Unter der Frühpost befand sich ein Brief von besonderem Interesse.»
«Sie sind nicht Watson, Sie sind Sherlock Holmes selbst. Sie haben vollkommen recht.»
«Es war nicht schwer zu erraten, Poirot. Wenn Sie einen Brief zweimal lesen, muss er von besonderem Interesse sein.»
«Urteilen Sie selbst!» Er reichte mir den Brief, in altmodischer Krakelschrift geschrieben, die zwei Seiten bedeckte.
«Geehrter Herr!
Nach langem Zögern schreibe ich Ihnen, weil ich hoffe, dass Sie vielleicht in der Lage sind, mir in einer ganz privaten Angelegenheit behilflich zu sein (‹ganz privaten› dreimal unterstrichen). Ihr Name ist mir nicht fremd. Ich verdanke ihn Miss Mary Brett, Exeter, die zwar gleichfalls nicht persönlich mit Ihnen bekannt ist, mir aber erzählte, dass ihre Schwägerin – der Name ist mir leider entfallen – Ihre Liebenswürdigkeit und Diskretion aufs Höchste rühmte (‹aufs Höchste› unterstrichen). Ich erkundigte mich natürlich nicht, welcher Art die Nachforschungen waren, die Sie für die genannte Dame anstellten, aber Miss Brett ließ durchblicken, dass es sich um eine überaus peinliche und streng vertrauliche Angelegenheit handelte. In meinem gegenwärtigen Dilemma verfiel ich auf den Ausweg Sie zu bitten, die nötigen Nachforschungen für mich anzustellen. Es handelt sich um eine Sache, die größter Diskretion bedarf und die sich vielleicht, wie ich inbrünstig hoffe, als völlig harmlos herausstellen wird. Man neigt oft dazu, Dingen, die völlig natürlich zu erklären sind, zu viel Bedeutung beizumessen.»
«Habe ich vielleicht ein Blatt ausgelassen?», murmelte ich verständnislos. «Das gibt doch keinen Sinn. Was will sie?» Poirot kicherte. «Lesen Sie nur weiter!»
«Sie werden mir gewiss zugeben, dass ich unter den obwaltenden Umständen mit niemandem in Basing darüber sprechen kann.»
Ich sah auf den Briefkopf. «Littlegreen House, Basing, Grafschaft Berkshire.»
«Sie werden aber auch begreifen, dass ich beunruhigt bin. Ich habe mir in den letzten Tagen immer wieder vorgeworfen, dass alles nur Einbildung sei, aber meine Unruhe wächst immer mehr. Vielleicht nehme ich etwas, das möglicherweise ganz belanglos ist (‹belanglos› zweimal unterstrichen), ungebührlich wichtig aber meine Besorgnis lässt sich nicht verscheuchen. Ich muss Gewissheit haben, denn die Sache schadet meiner Gesundheit, und dabei kann ich mich keinem Menschen (beide Worte dick unterstrichen) anvertrauen. Ein erfahrener Mann wie Sie wird vielleicht sagen, das Ganze sei nur Hirngespinst und vollkommen harmlos zu erklären (‹harmlos› unterstrichen). So geringfügig die Sache auch scheinen mag jedenfalls lebe ich seit dem Vorfall mit dem Spielball des Hundes in Zweifel und Sorge. Ich wäre Ihnen daher für Ihren Rat unendlich dankbar; Sie würden mir eine Last von der Seele nehmen. Wollen Sie mir, bitte, mitteilen, wie hoch Ihre Honoraransprüche sind und welchen Rat Sie mir in der Sache erteilen können.
Ich betone nochmals, dass hier niemand das Geringste davon weiß. Die Einzelheiten der Sache sind gewiss alltäglich und geringfügig aber meine Gesundheit ist nicht die beste und auch meine Nerven (‹Nerven› dreimal unterstrichen) sind nicht mehr so gut wie früher. Je mehr ich über den Fall nachdenke, desto überzeugter bin ich, dass ich Recht habe und kein Irrtum möglich ist. Ich werde natürlich kein Wort (unterstrichen) mit irgendwem (unterstrichen) darüber sprechen.
Ich hoffe, Ihre geschätzten Ratschläge möglichst bald zu erhalten, und bin
Ihre ergebene
Emily Arundell.»
Ich blätterte zurück und las den Brief nochmals genau durch.
«Poirot! Wovon ist hier die Rede?»
Er zuckte die Achseln. «Ja, wovon?»
«Warum kann diese Mrs oder Miss Arundell – »
«Miss höchstwahrscheinlich. Der typische Brief einer alten Jungfer.»
«Ja. Eine aufgeregte alte Schachtel. Warum sagt sie nicht, was sie will? Welchen Zweck hat ein solcher Brief?»
«So gut wie keinen, das ist wahr», gab Poirot zu.
«Wahrscheinlich ist ihrem gemästeten Schoßhund etwas zugestoßen, einem Mops oder keifenden Pekinesen. Und diesen Brief haben Sie zweimal gelesen, Poirot? Was fanden Sie an ihm so interessant?»
«Ein Punkt ist hochinteressant – er fiel mir sogleich auf.»
«Nicht sagen!», rief ich. «Vielleicht entdecke ich ihn selber.» Es war kindisch von mir. Vergeblich durchforschte ich den Brief. «Nein, ich finde nichts. Die alte Dame hat Angstzustände, bei alten Damen nichts Seltenes. Aber um was es sich handelt, ist nicht zu erkennen. Und erst recht nicht, was an diesem Brief so interessant sein soll.» Poirot antwortete ruhig: «Das Datum.»
«Das Datum?» In der Ecke links oben stand «17. April.»
«Ja», sagte ich, «das ist merkwürdig. Siebzehnter April!»
«Und heute ist der achtundzwanzigste Juni. Sonderbar, nicht wahr? Mehr als zwei Monate.»
Kopfschüttelnd meinte ich: «Hat aber vielleicht nichts zu bedeuten. Ein Irrtum. Sie wollte ‹Juni› schreiben und setzte statt dessen ‹April›.»
«Selbst dann wäre der Brief schon zehn, elf Tage alt, und auch das wäre merkwürdig. Aber Sie sind im Irrtum, Hastings. Sehen Sie die Farbe der Tinte an! Dieser Brief ist älter als zehn, elf Tage. Nein, siebzehnter April ist das richtige Datum. Und warum wurde er nicht abgeschickt?»
«Sehr einfach. Die alte Schraube hat es sich überlegt.»
«Dann hätte sie den Brief zerrissen, aber nicht zwei Monate aufbewahrt und dann zur Post gegeben.»
Das konnte ich nicht leugnen. Poirot trat an den Schreibtisch und griff nach der Feder.
«Sie beantworten den Brief?», fragte ich. «Oui, mon ami.»
Stille herrschte im Zimmer, nur Poirots Feder kratzte. Der Geruch von Staub und Teer drang durch die offenen Fenster. Poirot erhob sich, seinen Brief in der Hand, öffnete eine Schublade und zog eine kleine Schachtel hervor, der er eine Briefmarke entnahm; er befeuchtete sie an einem Schwämmchen und wollte sie auf den Umschlag kleben, hielt aber plötzlich inne und schüttelte den Kopf.
«Nein!», rief er. «Das wäre falsch!» Er riss den Brief in Stücke und warf sie in den Papierkorb. «So dürfen wir die Sache nicht angehen. Wir fahren hin, mein Freund.»
«Was? Nach Basing?»
«Gewiss. Warum nicht? Ist es in London nicht zum Ersticken? Die Landluft wird uns guttun.»
«Wenn Sie es so auffassen – fahren wir mit meinem Wagen?» Ich hatte einen Secondhand-Austin gekauft.
«Glänzend! Ein sehr angenehmer Tag für eine Autofahrt. Man braucht keinen Wollschal. Ein leichter Mantel, ein Seidentuch – »
«Lieber Freund, Sie fahren doch nicht zum Nordpol!»
«Man muss sich immer vor Erkältungen in Acht nehmen.»
«An einem solchen Tag?»
Ohne auf meine Einwände zu achten, zog Poirot einen hellbraunen Mantel an und schlang ein weißes Seidentuch um den Hals. Bevor wir die Wohnung verließen, legte er sorgfältig die nasse Marke auf das Löschblatt, mit der gummierten Seite nach oben.